Elektroautos, Wärmepumpen und Heimspeicher machen das Stromsystem künftig deutlich flexibler: 2035 können sie eine Strommenge in Höhe von zehn Prozent des gesamten Stromverbrauchs zeitlich verschieben. Neue dynamische Tarifmodelle können es Haushalten ermöglichen, diese Flexibilitäten bereitzustellen. Das spart Kosten bei der Erzeugung und senkt so die Strompreise für alle. Dies sind Ergebnisse einer Studie, die der Thinktank Agora Energiewende in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle für Energiewirtschaft e. V. (FfE) im Dezember 2023 vorgelegt hat. Ging es im vergangenen Blogbeitrag um dynamische Tarife in Abhängigkeit von Börsenpreisen, sollen nachfolgend erweiterte Preismodelle mit variablen Netzentgelten vorgestellt werden.
Dabei geht man in der Agora-Studie davon aus, dass etwa die Hälfte der Haushalte die Flexibilität ihrer E-Pkw, Wärmepumpen und Heimspeicher auch nutze, wenn entsprechende Preisanreize vorhanden seien. Werde dieses Potenzial ausgeschöpft, könnten 2035 rund 4,8 Milliarden Euro an Brennstoff- und Investitionskosten eingespart werden, die sonst für Wasserstoffkraftwerke und Großbatterien benötigt würden. Diese Einsparungen sorgten wiederum für sinkende Stromkosten für alle Verbraucherinnen und Verbraucher, heißt es von Seiten des Thinktanks.
Um das große Potenzial der Lastverschiebung in Haushalten zu heben, brauche es laut Einschätzung von Agora Energiewende neue Tarifmodelle, die etwa das Laden von Elektroautos sowohl am Stromangebot als auch der Netzauslastung ausrichten. Ohne solche differenzierten Preissignale könnte die wachsende Zahl der stromintensiven Technologien in Haushalten zu höheren Belastungsspitzen im Netz führen.
Agora Energiewende schlägt daher ein Tarifmodell vor, das beide Ziele verbindet: Auf der einen Seite sollen dynamische Strompreise* dafür sorgen, dass die günstigeren Flexibilitätsoptionen von Haushalten durch E-Autos, Wärmepumpen und Heimspeicher zuerst zum Einsatz kommen, bevor wesentlich kostspieligere Wasserstoffkraftwerke anlaufen. Auf diese Weise würden weniger Stunden mit sehr hohen Börsenstrompreisen auftreten und die durchschnittlichen Stromkosten für alle Verbraucherinnen und Verbraucher sinken.
Auf der anderen Seite beugten dynamische Netzentgelte, welche die aktuelle Netzauslastung abbilden, lokalen Überlastungen im Stromnetz vor, heißt es von Seiten der Studienautoren.
Im Rahmen der Agora-Studie sind die Auswirkungen von vier unterschiedlichen Stromtarifstrukturen auf die Betriebsweise haushaltsnaher Flexibilitäten analysiert worden. Die einzelnen Tarifmodelle unterscheiden sich darin, wir stark sie den aktuellen Börsenstrompreis beziehungsweise die Netzauslastung berücksichtigen.
Zusammensetzung der dynamischen Stromtarife je Szenario
Szenario | Beschaffungspreis | Netzentgelte | Zeitfenster der Netzentgelte |
lowFlex | konstant | konstant | – |
Flex | dynamisch* | konstant | – |
Flex-zeitvarNe | dynamisch* | zeitvariabel | statisch |
Flex-dynNe | dynamisch* | zeitvariabel | dynamisch |
Das Szenario „lowFlex“ steht für konstante Strompreise, bei dem flexible Verbrauchseinrichtungen rein bedarfsorientiert betrieben werden. Im Szenario „Flex“ – es entspricht den gesetzlichen Mindestanforderungen – wird von einem Anreizsystem durch Weitergabe des dynamischen Börsenstrompreises** an Kunden ausgegangen.
In den zwei weiteren Szenarien werden zusätzlich variable Netzentgelte in den Tarifstrukturen berücksichtigt. Sie sollen Anreize bieten, Lasten aus Zeitfenstern mit hoher Netzauslastung in Zeitfenster mit geringerer Auslastung zu verschieben:
In der ersten Ausprägung (Szenario „Flex-zeitvarNE“) handelt es sich um zeitvariable Netzentgelte mit vordefinierten statischen Zeitfenstern, bei denen die Preiszeitreihe zwischen verschiedenen Tagen, Regionen und Jahreszeiten variieren kann – ähnlich dem Prinzip der Hochlastzeitfenster.
Die zweite Ausprägung („Flex-dynNe“) zeichnet sich durch so genannte dynamisch adaptive Zeitfenster aus, die sich aus der vortäglichen Netzbetreiber-Prognose der Auslastung pro Ortsnetz ergeben – ergänzt um aktuelle Messdaten aus den Ortsnetztransformatoren. In beiden Szenarien ist außerdem ein dynamischer Strompreis hinterlegt, so dass die Preisunterschiede der variablen Börsenstrompreise und Netzentgelte direkt miteinander in "Konkurrenz" stehen können. Das kann oder muss künftig in der Preissetzung beachtet werden, um Preissignale beispielsweise für Beschaffung und Netz ausgewogen aufeinander abzustimmen.
Die Studie kommt zu dem Schluss, dass haushaltsnahe Flexibilitäten ohne eine Reform der Stromtarife die Belastung der Stromnetze deutlich erhöhen könnten, vor allem wenn zu viele Verbraucherinnen und Verbraucher ausschließlich getriggert durch niedrigere Strompreise in entsprechenden Zeitfenstern gleichzeitig und unabgestimmt ihren Strombezug erhöhen.
Erst die erweiterten dynamischen Tarifmodelle aktivieren haushaltsnahe Flexibilitäten und reduzieren gleichzeitig den Ausbaubedarf der Stromnetze. Sie kombinieren dynamische Strompreise und dynamische Netzentgelte. Der börsenabhängige Strompreis-Anteil zeigt an, ob Strom gerade knapp oder im Überfluss vorhanden ist. Außerdem lässt sich ein Rückschluss auf den Erneuerbaren Anteil ziehen. Es wird über die Strompreiskomponente damit ein marktdienliches Preissignal gegeben. Wie im letzten Blogbeitrag zur Akzeptanz von dynamischen Tarifen ausgeführt wurde, kommt es Verbrauchern neben der Preisspreizung auch darauf an, die Gründe für die unterschiedlichen Preisstufen nachzuvollziehen.
Der Netzentgelt-Anteil wiederum spiegelt die lokale Netzauslastung nach dem Motto wider: günstige Entgelte bei freiem Netz, hohe Entgelte bei starker Auslastung. Indem die variable Netzentgelte-Komponente netzdienliche Preissignale aussendet, werden damit Belastungsspitzen im Netz vermieden – insbesondere durch das Tarifmodell „Flex-dynNe“. Die Modellierung, welche die FfE im Auftrag von Agora Energiewende durchgeführt habe, zeige, dass dadurch weniger Lastspitzen und in der Folge weniger Kosten für den Netzausbau anfielen. Nach Einschätzung der Studienautoren sei der erforderliche Netzausbau so mit dem bisherigen Tempo machbar.
Agora Energiewende stellt in der Studie heraus, dass zeitvariable Netzentgelte mit statischen Zeitfenstern*** langfristig nicht ausreichen, um Netzengpässe wirkungsvoll zu verringern. In einer Übergangsphase könnten sie jedoch helfen, die Attraktivität der Flexibilitätsvermarktung zu erhöhen und erforderliche Prozessanpassungen schrittweise zu entwickeln und umzusetzen. Der Thinktank appelliert an die Bundesnetzagentur, Anreize zu schaffen, dass erste Verteilnetzbetreiber dynamische Netzentgelte mit dynamischen Zeitfenstern zu Beginn des Jahres 2027 einführen. Spätestens zum Jahr 2030 sollte eine Umstellung auf ein solches System abgeschlossen sein.
„In anderen europäischen Ländern sind zeitvariable Netzentgelte längst Realität. Die Bundesnetzagentur und Verteilnetzbetreiber sollten hieran anknüpfen und dynamische Netzentgelte in Deutschland ermöglichen“, erklärte Müller. „Das ist ein wichtiger Beitrag zur kostengünstigen Integration von Erneuerbaren Energien.“
Auch wenn Spareffekte in diesem Blog-Beitrag nicht ausführlicher thematisiert werden sollen, sei dennoch der Vollständigkeit halber erwähnt, dass die erweiterten dynamischen Stromtarife laut Studie durch ein kosteneffizienteres Stromsystem Ersparnisse für alle Verbraucherinnen und Verbraucher mit sich bringen: Ein Vier-Personen-Haushalt mit Wärmepumpe könne perspektivisch rund 600 Euro im Jahr sparen. Denn flexible Stromkundinnen und -kunden könnten ihren Verbrauch – in der Regel automatisiert – besser an Zeiten mit niedrigen Preisen ausrichten.
Das Besondere: Auch alle anderen Kundinnen und Kunden zahlten weniger und sparen durchschnittlich 1 Cent je Kilowattstunde, was bei einem Vier-Personen-Haushalt inklusive Mehrwertsteuer rund 42 Euro Ersparnis jährlich bedeute. Zusätzlich profitierten alle von niedrigeren Netzausbaukosten und besser ausgelasteten Netzen, fasst Agora Energiewende zusammen.
Bildquelle: Agora Energiewende
Eine modernisierte Tarifstruktur ist der Schlüssel, um das Potenzial haushaltsnaher Flexibilitäten zu heben. Während laut der Agora-Energiewende-Studie rein börsenpreisabhängige Tarife hinsichtlich der Preissignale sogar verstärkt zu Netzengpässen führen können, verspricht die Erweiterung des marktdienlichen Aspekts dynamischer Tarife um die netzdienliche Komponente ein höheres Maß an Kosten- und Netzeffizienz. Als geeignet stellen die Studienautoren daher die Kombination aus markt- und netzdienlichen Preissignalen heraus. Der Thinktank sieht die Bundesnetzagentur in der Verantwortung, Anreize für die Einführung variabler Netzentgelte mit dynamischen Zeitfenstern zu setzen und spricht sich für die flächendeckende Umstellung auf ein solches System bis 2030 aus.
* Die in der Studie verwendete Begriffsdefinition von dynamischen Stromtarifen weicht von der aktuell im § 3 Nr. 31d EnWG festgelegten Definition ab. Der Thinktank umfasst darin nicht nur dynamische Beschaffungsstrompreise, sondern auch dynamische Netzentgelte. Daher ist später auch von erweiterten dynamischen Tarifen die Rede.
** In Zukunft werden nach Einschätzung der Studienautoren voraussichtlich nicht alle Verbraucherinnen und Verbraucher solche dynamischen Stromtarife mit börseninduzierten Preisen in Anspruch nehmen – aus Sorge vor schwankenden Preisen und im Vergleich zum gewohnten Festpreis unter Umständen zumindest zeitweise teureren Strombezugskosten.
*** Die Bundesnetzagentur hat Regelungen vorgelegt, wie Kunden von steuerbaren Verbrauchseinrichtungen nach § 14a EnWG von reduzierten Netzentgelten profitieren können, wenn sie dem Netzbetreiber das Recht einräumen, die Anlagen runterzuregeln. So können betroffene Verbraucher entweder eine prozentuale Netzentgeltreduzierung des Arbeitspreises (Modul 2) oder eine pauschale Netzentgeltreduzierung (Modul 1) – diese ab 2025 ergänzt um zeitvariable Netzentgelte (Modul 3) erhalten. Die Berechnung des pauschalen Bonus ist festgelegt, wobei die Netzbetreiber die zeitvariablen Netzentgelte innerhalb vorgegebener Grenzen (entspricht statischen Zeitfenstern) selbst festlegen können. Das Modul 3 muss laut Bundesnetzagentur von Netzbetreibern erst ab dem April 2025 abgerechnet werden.